Werden wir bald noch mehr Ländernamen, Hauptstädte und neue Nationalflaggen verinnerlichen müssen? Während in der Öffentlichkeit zumeist über einen Zusammenbruch der europäischen Gemeinschaftswährung oder der EU spekuliert wird und bereits entsprechende Ausstiegsszenarien lanciert werden, reichen die krisenbedingten Zentrifugalkräfte bereits viel tiefer: Der Fortbestand etlicher Staaten Europas steht mittelfristig zur Disposition. In vielen Regionen Europas lässt die andauernde Eurokrise sezessionistische Bestrebungen aufleben, die sich durch eine Abtrennung vom Staatsverbund eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage erhoffen.
In dem krisengeplagten Spanien regt sich - neben dem Baskenland – auch in der autonomen Region Katalonien verstärkt ein militanter Separatismus, der auf die volle Unabhängigkeit abzielt. Die harten Einsparungen, die in ganz Spanien im Zuge der aufgelegten Sparprogramme umgesetzt werden, lassen auch in Katalonien die Unzufriedenheit rasch anschwellen. Doch ist man bei der Unabhängigkeitsbewegung des Landes der Ansicht, dass die Krise ohne den Verbleib in Spanien viel milder verlaufen würde "Wenn es um den eigenen Geldbeutel geht, sind wir alle Nationalisten", erklärte der Vorsitzende der republikanischen Linken Kataloniens, Josep Lluis Carod-Rovira, gegenüber der Schweizer Wochenzeitung.
Ein weiterer katalonischer "Linksnationalist", Francesc Marco Palau von der Vereinigung linker Studierender, behauptete gar, dass es in Katalonien keine Wirtschaftskrise gebe, wenn die Region "nicht so viel Geld in den gemeinsamen Topf zahlen müsste." Bei der spanischen Version des regionalen Finanzausgleichs zahlt Katalonien und 20 Milliarden Euro den Spanienweiten Fördertopf ein, aus dem sozioökonomisch rückständige Regionen gefördert werden.
Die konservative Regierungspartei Convergència i Unió (CiU) versteht es geschickt, die im Land umgesetzten drakonischen Sparmaßnahmen - wie Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und die Einführung von Rezeptgebühren - mit den jährlichen Überweisungen an den Zentralstaat zu begründen. Der "unerträgliche Finanzausgleich" habe die zusätzlichen Sparmaßnahmen erforderlich gemacht, erklärte etwa Kataloniens Regierungschef und CiU-Vorsitzender Artur Más. "Die Andalusier streichen unser hart erarbeitetes Geld ein und sitzen dann den ganzen Tag in der Bar", pöbelte unlängst ein weiterer CiU-Politiker im spanischen Parlament.
Auch der langjährige CiU-Chef Jordi Pujol i Soley, der von 1980-2003 den Posten des katalanischen Premiers bekleidete, plädiert nun für die volle Unabhängigkeit, obwohl er jahrzehntelang nur die Autonomie Kataloniens befürwortete. Er sei nicht "radikaler" geworden, erklärte Pujol unter Bezugnahme auf die Krise, "sondern die Umstände sind es".
Diese ökonomische Motivation des Sezessionismus tritt in Wechselwirkung mit psychologischen Beweggründen. Es sind diese krisenhaften Umstände einer Arbeitslosenquote von mehr als 20 Prozent, die viele Menschen in einer verbissenen Identitätssuche Zuflucht nehmen lassen. Der wirtschaftliche und soziale Abstieg soll inmitten der Kälte und Leere der kapitalistischen Krise durch etwas kompensiert werden, das einem nicht genommen werden kann – durch Identität:
Um eine effiziente Produktion einer regionalen Identität ist auch die separatistische Lega Nord im nördlichen Italien bemüht, die inzwischen den lokalen Dialekt zu einer eigenen Sprache ausbauenwill. Die vom parteieigenen Fernsehsender TelePadania ausgestrahlten Sendungen im Dialekt erfreuten sich einer wachsenden Beliebtheit, berichtete die Mailänder Tageszeitung "Il Giornale". Politiker der Lega Nord fordern inzwischen, dass italienische TV-Serien ebenfalls in Dialekt gedreht werden.
Zudem solle "Dialektunterricht" in der italienischen Schule zu einem Pflichtfach gemacht werden, forderte der ehemalige Chef der Lega Nord, Umberto Bossi, kurz vor seiner Entmachtung. Bossi wurde jüngst vom ehemaligen Innenminister in der Regierung Berlusconi, Roberto Maroni, als Chef dieser norditalienischen Separatistenbewegung abgelöst, nachdem dem Parteigründer derselbe Hang zur Korruption nachgewiesen wurde, den er immer bei der Zentralregierung in Rom und in den verarmten südlichen Regionen Italiens verortet:
Die rechtspopulistische, 1989 gegründete Lega Nord streitet für die Errichtung eines norditalienischen Staates, dem sie den Namen Padanien verpassen möchte. Trotz der jüngsten Turbulenzen um den Parteigründer Bossi befindet sich die Lega Nord im Aufschwung. Bei den letzten Regionalwahlen Ende 2010 konnte diese separatistische Bewegung italienweit mit 12,2 % der Stimmen ihr bislang bestes Ergebnis erringen, wobei in etlichen nördlichen Regionen zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Wähler ihr Kreuz bei der Bossi-Truppe machten.
Die historische sozioökonomischer Spaltung Italiens in einen reichen und hochgradig industrialisierten Norden, sowie einen unterentwickelten und verarmten Süden, droht somit in der Krise eine zusätzliche Sprengkraft zu entfalten. Den jahrelang wirkenden Fliehkräften zwischen den italienischen die Regionen droht somit eine krisenbedingte Intensivierung. Die Lega Nord konnte im Februar 2011 sogar eine Reform der Steuergesetzgebung durchsetzen, in deren Rahmen die Kompetenzen für die Steuereinnahmen weitgehend an die Regionen delegiert werden, was die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Italien weiter anschwellen lassen dürfte. Der Lega-Nord-Politiker Cesarino Monti formulierte die Zielsetzung der Lega Nord, der solche Steuerreformen dienen, recht offen: "Ich bin fest davon überzeugt, wir brauchen eine Trennung von Nord und Süd. Wir brauchen den Mut, um das offen zu sagen. Das Geld ist aus." Bei aller regionalistischen Folklore, die von der Lega gefördert wird, geht es auch dem italienischen Separatismus zuvorderst ums Geld.
Eine ähnliche Konfliktkonstellation kennzeichnet die verfahrene Lage in Belgien, wo die Auseinandersetzungen zwischen Flamen und Wallonen zu der wohl längsten Staatskrise in der europäischen Geschichte führten, als das Land 2010 und 2011 nach einer Wahl ganze 541 Tage auf die Regierungsbildung waren musste. In Belgien sind es die um die rechtsextreme Partei Vlaams Belang gruppierten Kräfte, die eine Loslösung Flanderns aus dem belgischen Staatsverband fordern.
Tatsächlich bildet Flandern inzwischen die wirtschaftlich dominierende Region des hoch verschuldeten Belgiens, während Wallonien unter den Deindustrialisierungsschulden der letzten Jahrzehnte leidet. Dabei galt Wallonien (oder die Wallonie) jahrzehntelang als der ökonomisch avancierte Landesteil, in dem sich ein enormer Industriesektor befand. Doch seit dem Einsetzen der Rationalisierungsschübe und dem Strukturwandel ab den 80ern ist dieses ehemalige industrielle Kernland Belgiens von massiver Deindustrialisierung gekennzeichnet, die Wallonien zu einer sozioökonomischen Notstandsregion verkommen ließ (Belgiens Staatskrise vertieft sich).
Dabei könnte auch Deutschland bei zunehmender Krisenintensität zukünftig von separatistischen Konflikten, wie sie derzeit in vielen Ländern Europas schwelen, heimgesucht werden. Ein der Wallonie ähnliches postindustrielles Brachland bildet etwa das deutsche Ruhrgebiet, das ebenfalls auf massive Geldspritzen angewiesen ist - und genau diese Ausgleichszahlungen bildeten den Hintergrund eines erbitterten Streits, den Spitzenpolitiker aus Bayern und Nordrhein Westfalen über mehrere Wochen ausfochten.
So warnte der bayrische Finanzminister, dass für sein Land beim Länderfinanzausgleich inzwischen die "Schmerzgrenze überschritten" sei - und folglich die Zahlungen Münchens an in das föderale Ausgleichsprogramm bis 2019 "eingefroren" werden sollten. Bei seiner Polemik zog Söder auch europäische Parallelen, indem er die Empfängerländer des Finanzausgleichs mit den südeuropäischen Schuldenstaaten verglich:
In Europa wird ein Sanktionsmanagement etabliert, bei dem Defizitsünder mit Strafen rechnen müssen. Etwas Ähnliches muss in Deutschland geschehen. Wenn sich Griechenland, Portugal und Italien anstrengen müssen, dann werden das Rheinland-Pfalz, Bremen und Berlin auch schaffen.
Ein internes Papier der CSU plädiert sogar für eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die immer stärkeren Ungleichgewichte im Länderfinanzausgleich, bei dem inzwischen München gut die Hälfte der Zuschüsse beiträgt. Die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, drohte in Reaktion auf diese bayrischen Attacken mit dem Stopp aller Transfers zwischen den Bundesländern, womit auch die Zahlungen - wie etwa der Mehrwertsteuerausgleich und die Forschungsförderung - eingestellt würden, bei denen das bevölkerungsreiche NRW als Geberland auftritt. "Wenn Bayern den Länderfinanzausgleich aufkündigt, dann liegen automatisch auch alle anderen Ausgleichssysteme unter den Bundesländern auf dem Tisch", warnte Kraft. Hiernach legte noch CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt nach, indem er erklärte:
Es ist nicht länger zumutbar, dass Bayern für den Finanzschlendrian von Frau Kraft zahlt. Frau Kraft ist drauf und dran, aus NRW ein Schuldendesaster-Land zu machen. Wer eine solche Schulden- statt Konsolidierungspolitik macht, kann nicht auch noch bei anderen die Hand aufhalten und Länderfinanzausgleich einsacken wollen. Wir können mit dem Geld der Steuerzahler keinen vorsätzlichen Rechts- und Verfassungsbrüchen Vorschub leisten.
Selbstverständlich sind diese Streitigkeiten über den Länderfinanzausgleich - noch - nicht mit den ausgewachsenen separatistischen Bewegungen in Italien, Spanien oder Belgien zu vergleichen, doch es ist dieselbe Krisenlogik, die auch bei den Auseinandersetzungen in der föderal geprägten Bundesrepublik greift: Die ökonomisch abgeschlagenen Regionen werden von den avancierten Regionen als "Schmarotzer" wahrgenommen, die in der Krise zu einer unzumutbaren Belastung würden. Diese Sichtweise – die Teil einer allgemeinen Tendenz zur Exklusion der Krisenopfer ist - setzt sich in Katalonien, Flandern, Norditalien durch – und auch in Bayern.
Die Klage aus München über immer weiter ansteigende Zuzahlungen an den Länderfinanzausgleich spiegelt aber nur die wachsenden ökonomischen Ungleichgewichte in der Bundesrepublik wieder. Die Krise legt nur eine länderfristige Tendenz des regionalen Auseinanderdriftens offen, bei der einige wirtschaftlich erfolgreiche Regionen sich weiten Landstrichen gegenübersehen, die von Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit geprägt sind.
Die sozioökonomischen Unterschiede zwischen den erfolgreichen Regionen Bayern und Baden-Württemberg und dem zerfallenen Ruhrgebiet oder den postindustriellen Brachlandschaften Ostdeutschlands sind bereits jetzt gewaltig. Sollte der Länderfinanzausgleich gemäß bayrischer Vorstellungen tatsächlich noch weiter zurückgefahren werden, dürften diese enormen regionalen Ungleichgewichte noch weiter zunehmen – was den Zentrifugalkräften in der Bundesrepublik noch weiteren Auftrieb verschaffen würde.
Der zunehmende Regionalismus und letztendlich auch Separatismus resultiert somit auch daraus, dass die nationalen Volkswirtschaften in Auflösung übergehen. Die gegenwärtige kapitalistische Systemkrise geht mit einem regionalen "Abschmelzen" der hochproduktiven warenproduzierenden Industrie einher, die zu einer konzentrierten Clusterbildung auf relativ geringen Raum übergeht. Diese Anballungen von hochproduktiver Industrie, die sich im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb etabliert haben, sind in globale Wertschöpfungsketten eingebunden und sie produzieren hauptsächlich für den Weltmarkt. Die ökonomische Verflechtung mit den ökonomisch abgehängten und deindustrialisierten Regionen innerhalb derselben Nation nimmt hingegen immer weiter ab.
Bayern und Baden-Württemberg bilden mit ihrer avancierten sozioökonomische Struktur somit eher einen Teil der Clusterbildung rund um den Alpenraum, wo in Norditalien, Teilen Österreichs und der Schweiz wirtschaftliche Konzentrationsprozesse ablaufen – bei gleichzeitiger Deindustrialisierung in weiten Teilen Europas. Somit weisen Teile Süddeutschlands rein sozioökonomisch betrachtet größere Ähnlichkeiten mit diesen Nachbarregionen auf als etwa mit dem Ruhrpott, Mecklenburg Vorpommern oder Bremen.
Überdies kann der Nationalismus – wie auch die nationale Identität – als ein historisch relativ junges Phänomen bezeichnet werden, das sich erst im 19. Jahrhundert parallel zur Ausbildung von nationalen Volkswirtschaften seine Massenwirksammkeit entfaltete. Mit der langsamen Auflösung und Zerfaserung der nationalen Volkswirtschaft in der krisenhaften Globalisierung verliert auch die nationale Identität ihr Fundament – und deswegen wird sie so wandlungsfähig, instabil und potenziell bösartig. Der derzeitigen antieuropäischen Welle wird somit kein neues Zeitalter der Nationalstaaten folgen, sondern eine zweite Welle des Regionalismus und Separatismus.
Schließlich finden sich in der jüngsten Geschichte genügen historische Parallelen, die die Wechselwirkung von Systemkrise und Separatismus veranschaulichen. Auch bei der Implosion des autoritären Staatssozialismus waren es vor allem die ökonomisch am weitesten entwickelten Regionen, die frühzeitig auf ihre Unabhängigkeit vom zerfallenden Staatsverband setzten. In der Sowjetunion drängten etwa die baltischen Staaten auf die Loslösung, in Jugoslawien war es das wirtschaftlich avancierte Slowenien, das zuerst die Sezession betrieb.
Tomasz Konicz, Avril 2012
Du même auteur en français : Plongée dans la guerre civile mondiale