Gesellschaftliche Emanzipation in Zeiten der Krise
Thesen zur Tagung: Was ist links heute? (a)
von Norbert Trenkle (Gruppe Krisis)
1.
Als vor gut 25 Jahren der sogenannte Realsozialismus zusammenbrach, war die liberal-demokratische Öffentlichkeit davon überzeugt, das „westliche System“ von Marktwirtschaft und Demokratie sei historisch als Sieger aus dem „Wettstreit der Systeme“ hervorgegangen. Der berühmte Satz von Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ machte allenthalben die Runde, und die traditionelle Linke verlor den Boden unter den Füßen.
Nur wenige kritische Stimmen stellten sich dieser euphorischen Stimmung entgegen. Der Westen – so ein Bonmot – habe nicht gesiegt, sondern sei nur übrig geblieben. Nicht allgemeiner Wohlstand werde nun ausbrechen, sondern der entfesselte Kapitalismus könne nun, ohne ein gegnerisches System, seine zerstörerische Gewalt umso ungehemmter entfalten. Aus wertkritischer Perspektive, wie sie im Umfeld der Zeitschrift Krisis entwickelt worden war, stellte sich die Sache noch einmal anders dar. Mit dem Staatsozialismus, so unsere Analyse, ging keinesfalls ein alternatives gesellschaftliches System zu Ende; vielmehr handelte es sich um ein Regime nachholender kapitalistischer Modernisierung unter staatlich-autoritären Vorzeichen, das an seine historischen Grenzen stieß, weil es seiner Struktur zu starr und unbeweglich war, um auf den Zug der dritten industriellen Revolution aufspringen zu können, die neue Produktivitätsstandards durchgesetzt hatte. Den Zusammenbruch dieses Regimes interpretierten wir insoweit aber auch zugleich als den Auftakt für eine fundamentale Krise der gesamten kapitalistischen Produktionsweise, die letztlich an der von ihr selbst entfesselten Hyperproduktivität ersticken musste (vgl. Stahlmann 1990; Kurz 1991). Diese Krisendiagnose wurde vielfach infrage gestellt; und eine Zeitlang konnte es so scheinen, als sei sie von der realgesellschaftlichen Entwicklung grandios widerlegt worden. Doch nun, mit einer zeitlichen Verzögerung von einem Vierteljahrhundert, gerät das kapitalistische Weltsystem mit furchterregender Geschwindigkeit aus allen Fugen. Um die Ursachen und den Charakter dieser entfesselten Dynamik zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick zurück auf die Verlaufsform der letzten zweieinhalb Jahrzehnte werfen.
2.
Schon bald nach dem historischen Einschnitt von 1989 erhielt der euphorische Optimismus seine ersten Dämpfer. Der Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait stellte die geopolitische Architektur im Nahen und Mittleren Osten infrage und warf die Frage nach einer „Neuen Weltordnung“ nach dem Ende der Blockkonfrontation auf; die anschließende Intervention des Westens unter Führung des USA bewirkte nur eine sehr prekäre und vorübergehende Stabilisierung. Kurz darauf rückte mit dem blutigen Zerfall Jugoslawiens der Krieg wieder bis direkt an die Grenzen der Europäischen Union heran, während auch anderweitig in Europa und der Welt Nationalismen und Separatismen zu wuchern begannen. Auch wirtschaftlich war die erste Hälfte der 1990er Jahre alles andere als vielversprechend. Der ehemalige Ostblock lag am Boden, die Länder der Dritten Welt ächzten unter der Schuldenlast und den neoliberalen Zwangsmaßnahmen von IWF und Weltbank, und in den kapitalistischen Zentren nahm die strukturelle Massenarbeitslosigkeit weiter zu. Gleichzeitig lösten die neu entfachten Kriege und Bürgerkriege sowie der wirtschaftliche Niedergang in den Ländern des ehemaligen Ostblocks gewaltige Migrationsbewegungen aus, die in Europa wiederum zu hysterischen Abwehrreaktionen führten und einer brutalen Abschottungspolitik unter der Führung Deutschlands den Weg bereiteten. Manch ein liberaler Politiker, der eben noch betrunken den Sieg des Westens gefeiert hatte, sehnte sich plötzlich die Mauer wieder herbei (vgl. Trenkle 1993).
3.
Wenn sich dann in den späten 1990er und den 2000er Jahren die weltwirtschaftliche Lage wieder stabilisierte, dann war das vor allem dem ungeheuren weltwirtschaftlichen Boom geschuldet, der durch die gigantische Aufblähung der Finanzmärkte, also durch die massenhafte Akkumulation von fiktivem Kapital, entfesselte wurde. Dieser Boom schien alle Diagnosen von einem „Kollaps der Modernisierung“ als einer fundamentalen Krise des kapitalistischen Weltsystems grandios zu widerlegen. Das gilt umso mehr, als dieser wirtschaftliche Aufschwung keineswegs auf die bisherigen kapitalistischen Metropolen beschränkt blieb, sondern auch viele sogenannte Schwellenländer erfasste. Insbesondere China, Brasilien und Indien sowie andere südostasiatische Staaten, deren binnenindustrielles Entwicklungskonzept der 1960er und 1970er Jahre gescheitert war, erlebten nun unter den neuen Vorzeichen der „finanzmarktgetriebenen Akkumulation“ einen gewaltigen Boom und stiegen zu wirtschaftlichen Giganten auf. Selbst eine ganze Reihe afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten, die noch Ende der 1990er Jahre als die großen Verlierer der Globalisierung dagestanden waren, gerieten nach der Jahrtausendwende in den Sog dieser wirtschaftlichen Konjunktur, indem sie vor allem ihre Rohstoffe und landwirtschaftlichen Produkte verkauften, deren Nachfrage auf dem Weltmarkt in die Höhe schnellte. Auch Russland kam durch den Rohstoffexport ökonomisch und politisch wieder auf die Füße und begann unter der autokratisch-diktatorischen Putin-Herrschaft wieder verstärkt Einfluss auf das geopolitische Geschehen zu nehmen.
4.
Dieser weltwirtschaftliche Aufschwung besaß allerdings eine völlig andere Grundlage als der fordistische Boom der Nachkriegszeit. Beruhte dieser auf der Verwertung von Kapital durch die breit angelegte Vernutzung von Arbeitskraft in der industriellen Massenproduktion, also auf der Aneignung von Wert aus vergangener Arbeit, so wurde die neue wirtschaftliche Dynamik durch den massenhaften Vorgriff auf zukünftigen Wert, also auf zukünftig zu verausgabende Arbeitskraft, angefacht. Dieser Wechsel der Grundlage hatte strukturelle Gründe. Als das fordistische Akkumulationsmodell in den 1970er und 1980er Jahren in die Krise geriet, weil im Zuge der dritten industriellen Revolution die Anwendung des Wissens auf die Produktion zur Hauptproduktivkraft aufstieg, stieß damit auch der klassische Mechanismus der Kapitalverwertung an seine historischen Grenzen. Angesichts der massenhaften und absoluten Verdrängung von Arbeitskraft aus der unmittelbaren Produktion reichte der in der Produktion geschöpfte Wert bei weitem nicht mehr aus, um die Selbstzweckbewegung der permanenten Geldvermehrung in Gang zu halten. Damit aber stand der grundlegende Funktionsmechanismus der kapitalistischen Produktionsweise zur Disposition (vgl. Lohoff/ Trenkle 2012, S. 22 ff.).
5.
Ein vorübergehender Ausweg aus dieser Krise fand sich in der massenhaften Akkumulation von fiktivem Kapital. Fiktives Kapital entsteht immer dann, wenn Eigentumstitel wie Schuldverschreibungen oder Aktien in Umlauf gebracht werden bzw. wenn die Preise für bereits im Umlauf befindliche Eigentumstitel steigen. Solche Eigentumstitel sind handelbare Zahlungsversprechen und stellen eine bestimmte Sorte von Waren dar, Waren 2ter Ordnung (vgl. Lohoff/ Trenkle 2012, S. 124 ff.), die ganz besondere Eigenschaften besitzen. Durch ihren Verkauf lässt sich das verauslagte Kapital gänzlich ohne den Einsatz von Arbeitskraft und den „Umweg“ über die Produktion von Gütermarktwaren vermehren.
Wie ist das möglich? Beim Kauf von handelbaren Zahlungsversprechen wird nicht einfach nur das Geld aus der Hand des Käufers in die Hand des Verkäufers übertragen. Diese Übertragung vom Kreditgeber zum Kreditnehmer, vom Aktienkäufer zum Aktienemittenten etc. geht vielmehr mit einer zeitweisen Verdoppelung der betreffenden Geldsumme einher. Neben das in die Hände des Kreditnehmers oder Aktienemittenten gelangte Ausgangskapital tritt in der Gestalt des Eigentumstitels ein verselbständigtes Spiegelbild eben dieses Kapitals, das künftigen Wert repräsentiert. Solange der Eigentumstitel gültig ist, also während seiner gesamten Laufzeit, findet auf diese Weise eine Kapitalakkumulation ohne Kapitalverwertung statt (vgl. Lohoff 2014).
Dieser seltsame Verdopplungsmechanismus ist für sich genommen keineswegs neu, sondern gehört zur basalen Funktionslogik der kapitalistischen Produktionsweise. Doch in der fundamentalen Verwertungskrise, die durch die absolute Verdrängung von Arbeitskraft im Zuge der dritten industriellen Revolution bedingt ist, gewann er eine ganz neue, systemtragende Funktion: Er geriet zum Motor der weltwirtschaftlichen Dynamik. Seit vielen Jahren wird in der medialen Öffentlichkeit die gewaltige Aufblähung des Finanzkapitals der letzten dreißig Jahre als „Fehlentwicklung“ skandalisiert und für die verschiedenen Krisenerscheinungen verantwortlich gemacht. Tatsächlich jedoch wäre das warenproduzierende Weltsystem ohne die verselbständigte Kapitalakkumulation auf den Finanzmärkten seit gut drei Jahrzehnten längst in eine tiefe Agonie gestürzt. Ohne die massenhafte „Produktion“ von fiktivem Kapital hätte es nie den industriellen Boom in China, Indien, Brasilien und Co. gegeben, die ehemaligen realsozialistischen Staaten wären nie wieder auf die Beine gekommen, und die dritte industrielle Revolution wäre an ihrer eigenen Produktivität erstickt, weil sie durch das massenhafte Überflüssigmachen von Arbeitskraft die Grundlagen der Kapitalverwertung zerstört.
6.
Allerdings zeichnet sich die auf dem fiktiven Kapital beruhende Dynamik durch einige wesentliche Unterschiede gegenüber dem fordistischen Nachkriegsboom aus. Der wichtigste besteht darin, dass die Kapitalakkumulation nicht mehr primär auf die Vernutzung von Arbeitskraft angewiesen ist, sondern die Vermehrung des Geldes großenteils direkt an den Finanzmärkten stattfindet. Damit aber büßen die Verkäufer der Ware Arbeitskraft einen Großteil ihrer Verhandlungsmacht ein, die bisher darauf beruhte, dass das Kapital auf sie angewiesen war,, um akkumulieren zu können. Zwar waren sie strukturell gesehen immer schon in einer schwächeren Position gegenüber dem Kapital, weil sie ihre einzige Ware permanent verkaufen müssen, um das eigene Überleben zu sichern. Doch konnte dies, vor allem in Zeiten einer großen Nachfrage nach Arbeitskräften, durch gewerkschaftliche und politische Organisierung kompensiert werden. In der Ära des fiktiven Kapitals jedoch, wo die Akkumulation des Kapitals in erster Linie auf dem Verkauf von handelbaren Zahlungsversprechen, also von Waren 2ter Ordnung, beruht, hat sich das Koordinatensystem der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ganz grundsätzlich zugunsten des Kapitals verschoben. Denn dieses ist nun in der bequemen Position, die Basiswaren der Akkumulation an den Finanzmärkten selbst zu „produzieren“, während die Ware Arbeitskraft, gemessen an ihrem Beitrag zur Kapitalvermehrung, nur noch von untergeordneter Bedeutung ist (vgl. Trenkle 2015b).
Hinzu kommt noch, dass die Lohnabhängigen durch die durchgreifende Rationalisierung in den Kernsektoren der Weltmarktproduktion und die gleichzeitige Globalisierung in ihrer Verhandlungsmacht ohnehin entscheidend geschwächt worden sind, weil sie entweder jederzeit durch Automation oder durch Niedriglöhner irgendwo auf der Welt ersetzt werden können. Prekarisierung, Lohndrückerei und verschärfte Arbeitshetze waren die logischen Folgen.
Gleichzeitig damit hat auch die Produktion von Gütermarktwaren einen innersystemischen Funktionswandel erfahren, der unter fordistischen Bedingungen das zentrale Mittel darstellte, um die Selbstzweckbewegung der Geldvermehrung in Gang zu halten. Entscheidend für die Kapitalverwertung war die Verausgabung von Arbeitskraft in der Produktion von Autos, Kühlschränken, Werkzeugmaschinen etc., wohingegen die Schöpfung von fiktivem Kapital im Wesentlichen auf diese Verwertungsdynamik bezogen blieb. So wurden beispielsweise große Investitionen in Fabriken und Infrastruktur durch Anleihen oder Aktien vorfinanziert, wobei im Allgemeinen dieser Vorgriff auf zukünftigen Wert durch die anschließende Vernutzung von Arbeitskraft in der Produktion von Gütermarktwaren wieder eingeholt werden konnte. In der Ära des fiktiven Kapitals hat sich dieses Verhältnis umgekehrt. Nun ist die sogenannte Realwirtschaft nicht mehr Motor der Geldvermehrung, sondern selber in höchstem Maße davon abhängig, dass die Akkumulation von Eigentumstiteln an den Finanzmärkten in Gang bleibt. Gerät diese ins Stocken, wie im Jahr 2008, versiegen sofort auch die Geldströme für Investitionen oder den Kauf von Konsumgütern und die Realwirtschaft stürzt in eine Krise, aus der sie nur wieder herauskommen kann, soweit die „Produktion“ von fiktivem Kapital wieder Schwung aufnimmt. Systemisch funktional ist die Produktion von Gütermarktwaren nur noch insofern, als sie Referenzpunkte für Gewinnerwartungen liefert, an denen sich die Käufer von Eigentumstiteln orientieren; sie liefert also gewissermaßen den Stoff für die „Phantasie an den Märkten“, ohne die der Vorgriff auf zukünftigen Wert nicht stattfindet (vgl. Lohoff/ Trenkle 2012, S. 228 ff.).
7.
Damit wird die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt der Produktion, die zu den Grundmerkmalen der kapitalistischen Produktionsweise gehört, auf die Spitze getrieben. Nirgendwo zeigte sich dies deutlicher als in der großen Finanzmarktkrise, wo die Regierungen und Zentralbanken dreistellige Milliardenbeträge aufbrachten, um den Finanz- und Bankensektor zu retten, der (in gewisser Weise durchaus zu Recht) als „systemrelevant“ eingestuft wurde, nur um dann den Sozial- und Gesundheitssektor kaputt zu sparen. Aber auch die horrenden Preissteigerungen bei Immobilien, die das Wohnen vielerorts zum Luxusgut gemacht haben, sind auf die Dynamik des fiktiven Kapitals zurückzuführen, das die Erwartungen auf zukünftige Gewinne bereits heute kapitalisiert; ganz ähnlich verhält es sich bei der Inwertsetzung von Rohstoffen, natürlichen Ressourcen und landwirtschaftlichen Flächen (Lohoff 2015). Nicht zufällig haben sich daher in den letzten Jahren viele soziale Kämpfe weltweit an der Verdrängung von Menschen aus ihren Wohnvierteln, der Ökonomisierung des öffentlichen Raums, der Räumung von Wohnungen und Häusern im Gefolge der Immobilienkrise und gnadenlosen Aneignung von Ländereien und natürlichen Ressourcen durch global agierende Konzerne entfacht.
Aber nicht nur ökonomisch, sondern auch auf sozialer und politischer Ebene hat die Ära des fiktiven Kapitals die Gesellschaft geprägt. Eingeleitet wurde sie durch die Zerschlagung der sozialstaatlichen und regulatorischen Strukturen aus der Ära des Fordismus und die neoliberale Zurichtung der Gesellschaften auf die immer intensiveren Zwänge der flexibilisierten Arbeitswelt und die totale Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen. Die leicht vorhersehbare Folge war eine Verschärfung der allgemeinen Konkurrenz und eine weitgehende Atomisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Nicht zufällig ging dies mit einer allseitigen Revitalisierung des Nationalismus einher, der den regressiven Wunsch nach Zugehörigkeit zu einem vermeintlich beschützenden Kollektiv befriedigte und sich mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ausgrenzungsideologien verband oder sich als bornierter, regionalistischer Separatismus teils blutig-kriegerisch, teils politisch austobte. Aus ganz ähnlichen Gründen wucherte der religiöse Fundamentalismus in den verschiedensten Spielarten überall auf der Welt – und zwar keinesfalls nur in Gestalt des Islamismus, auch wenn dieser aufgrund der spezifischen Form des Scheiterns der nachholenden Modernisierung im Nahen und Mittleren Osten ein besonders aggressives und gewalttätiges Potential entwickelte (vgl. Trenkle 2015a).
8.
Zugleich entstand aber auch mit der globalisierungskritischen Bewegung eine neue linke Kraft, die sich vor allem in zweierlei Hinsicht von der bisherigen Linken unterschied. Auf der einen Seite spiegelte sie in ihren transnational vernetzten, nicht-hierarchischen Strukturen die veränderte Gestalt der Welt wieder, was zweifellos einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem überkommenen „Internationalismus“ darstellte, der sich selber noch auf die Nationen bezog. Auf der anderen Seite blieb jedoch zumindest der Mainstream der globalisierungskritischen Bewegung in seiner Kritik und seinen Zielen auf eine bemerkenswerte Weise im Bezugsraum der kapitalistischen Logik gefangen. Kritisiert wurden in erster Linie der Neoliberalismus und die Dominanz des Finanzkapitals, die für die Krisen und sozial-ökonomischen Verwerfungen verantwortlich sein sollten; als Alternative galt dementsprechend die Chimäre einer Rückkehr in einen sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, in dem die „Realwirtschaft“ wieder im Zentrum stehen sollte.
Trotz dieser beschränkten Kritik (oder vielleicht auch gerade wegen ihr) trug die globalisierungskritische Bewegung zu einem gesellschaftlichen Klimawandel bei; die neoliberale Diskurshegemonie ging zunehmend verloren, und teilweise gelang es sogar, den Abbau des Sozialstaats und die Privatisierung zu stoppen oder sogar bestimmte Maßnahmen rückgängig zu machen. In vielen Ländern Lateinamerikas gelangten in den Nullerjahren sogar linke Parteien an die Regierung und nutzten den Verteilungsspielraum, der durch den Boom des fiktiven Kapitals eröffnet worden war, um eine ganze Reihe sozialer, rechtlicher und politischer Verbesserungen für bisher marginalisierte und entrechtete Bevölkerungsgruppen durchzusetzen.
9.
Mit der Finanzkrise von 2008 rückten dann jedoch die Grenzen der Ära des fiktiven Kapitals in greifbare Nähe. Nur mit einem gewaltigen Aufwand staatlicher Rettungsprogramme für den Banken- und Finanzsektor und einer gigantischen Flutung der Märkte mit praktisch zinslosen Zentralbankkrediten ließ sich der große Crash des weltweiten Finanzsystems und der darauf beruhenden Weltwirtschaft noch einmal verhindern. Die globalisierungskritische Linke erwies sich in dieser Situation als vollkommen zahnlos. Zwar rückten ihre Forderungen nach einer Kontrolle der Finanzmärkte und einer Stärkung der Realwirtschaft im Gefolge der Krise plötzlich in den Mainstream der medialen Öffentlichkeit und wurden von den Regierungen aufgegriffen; damit einher ging ein gesellschaftlicher Stimmungswandel: Der Neoliberalismus geriet in die Defensive und verlor seine hegemoniale Stellung an eine neue Art von Keynesianismus. Doch faktisch war das nur die ideologische Begleitmusik zu den globalen, staatlichen Rettungsprogrammen, die in allererster Linie darauf abzielten, die Banken zu sanieren und die Akkumulation des fiktiven Kapitals mit allen Mitteln wieder in Gang zu bringen.
Damit erwiesen sich die politischen Vorstellungen der globalisierungskritischen Linken als gänzlich illusorisch. Keinesfalls kam es zu einer Eindämmung des Finanzkapitals noch gar zu jener phantastischen „Rückkehr zur Realwirtschaft“, obwohl diese inzwischen quer durch das gesamte politische Spektrum gebetsmühlenartig gefordert wurde. Doch das lag keineswegs am mangelnden politischen Willen, sondern schlicht und einfach daran, dass die ökonomische Grundlage dafür nicht mehr existierte. Angesichts der exorbitanten Produktivität, die ihrerseits aus der kapitalistischen Widerspruchsdynamik resultiert, kann die Selbstzweckbewegung des Kapitals nicht mehr durch die Vernutzung von Arbeitskraft in der Produktion in Gang gehalten werden, sondern hängt auf Gedeih und Verderb von der Akkumulation des fiktiven Kapitals ab.
10.
Dementsprechend sahen sich auch die linken Parteien gezwungen, die Rettungsprogramme für den Banken- und Finanzsektor zähneknirschend zu akzeptieren oder sogar aktiv mitzutragen, um einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern. Später mussten sie dann mit ansehen, wie die konjunkturelle Entwicklung zunehmend von den Interventionen der Zentralbanken abhängig wurde, die ihrerseits gar nicht anders konnten, als die Finanzmärkte mit einem gigantischen Strom fast zinslosen Geldes permanent zu fluten, weil die privatwirtschaftliche Akkumulation des fiktiven Kapitals nach 2008 nicht mehr richtig in Gang kam und seitdem praktisch permanent geldpolitisch subventioniert werden muss (vgl. Lohoff/ Trenkle 2012, S. 258 ff.). Die wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglichkeiten der Regierungen waren demgegenüber äußerst begrenzt.
Da außerdem die Staatsverschuldung vor allem in den am stärksten von der Krise betroffenen Ländern gewaltig in die Höhe schnellte, weil die Verluste aus dem Banken- und Finanzsektor zu einem erheblichen Teil sozialisiert wurden, sahen sich die neoliberalen Hardliner erneut in ihrem austeritätspolitischen Wahn bestätigt. Am schlimmsten kam es in Europa, wo einige wenige Länder, insbesondere Deutschland, als Gewinner aus der Krise hervorgingen und nun vor allem den südeuropäischen Ländern ein brutales und rücksichtloses Spardiktat auferlegten. Besonders bitter traf es Griechenland, wo letztlich sogar die in Reaktion darauf gewählte Syriza-Regierung angesichts der Erpressung durch die deutsche Sparsadisten keine Alternative sah, als sich selbst zum Handlanger jener Politik zu machen, gegen die sie zuvor vehement angekämpft hatte.
11.
Die linken Dissidenten, die diese Wendung kritisieren, haben daraus allerdings Konsequenzen gezogen, die ideologisch gesehen fast noch schlimmer sind: Sie steigern sich in die Phantasie hinein, die Lösung bestehe in der Rückkehr zur „nationalen Souveränität“ durch den Austritt aus der Eurozone, der EU und anderen supranationalen Zusammenhängen. Diese Vorstellung ist zwar der Sache nach vollkommen illusorisch; denn eine solche Herauslösung aus den globalen Verflechtungen ist schlicht nicht möglich oder jedenfalls nur mit katastrophalen Folgen für die betreffenden Länder. Trotzdem reflektiert sie auf gefährliche Weise die Tendenzen einer zunehmenden nationalistischen Abgrenzung, wie sie im Gefolge der Eurokrise oder auch aktuell angesichts der völlig disparaten Flüchtlingspolitik die EU zu sprengen droht. Die Konsequenz einer solchen „linksradikalen“ Politik (wie sie von der Syriza-Abspaltung, der Lafontaine-Wagenknecht-Fraktion und anderen Linken in Europa propagiert wird) wäre alles andere als die Wiederherstellung der wirtschafts- und sozialpolitischen Souveränität der betreffenden Staaten, sondern vielmehr die aggressive Abschottung bei gleichzeitiger interner Verarmung und würde der Errichtung von autoritären Krisenregimen den Boden bereiten, wie sie in Russland und Ungarn bereits deutlich Gestalt angenommen haben; Polen ist auf neuerdings auch auf dem Weg dorthin.
Zugleich vermengt sich dieser regressive Nationalismus systematisch mit den übelsten Sorten von Verschwörungsideologie, in denen stets irgendwelche dunklen internationalen Mächte und geheimen Kräfte eine Politik zugunsten der „ehrlichen Arbeit“ und zulasten der Spekulation verhindern. Das ist die Kehrseite einer völlig haltlosen Politikillusion, die sich ihr Versagen nicht anders zu erklären weiß, als durch finstere projektive Personifizierungen. Nicht von ungefähr können hier allerlei Querfrontstrategen mühelos ansetzen und die Brücke zum offenen Antisemitismus und Rechtsextremismus schlagen.
12.
Dieses Changieren zwischen Unterwerfung unters Spardiktat und nationalistisch-verschwörungsideologischer Regression ergibt sich aus der Fixierung auf die Basislogik der warenproduzierenden Gesellschaft. Eine Linke, die fraglos akzeptiert, dass Reichtum grundsätzlich in der Form von Waren produziert wird, die ihrerseits nur das Mittel zum Zweck der Kapitalakkumulation sind, kann kein anderes Programm haben, als die kapitalistische Dynamik politisch so zu beeinflussen und zu steuern, dass der kapitalistisch produzierte Reichtum gesellschaftlich gerechter verteilt werden kann. Eine solche Politik hatte in den Hochzeiten des fordistischen Booms sicherlich ihre relative Berechtigung und trug in den kapitalistischen Zentren wesentlich dazu bei, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse für große Teile der Bevölkerung zum Teil erheblich zu verbessern. In der Ära des fiktiven Kapitals gerät sie jedoch zur bösen Karikatur ihrer selbst. Denn, wie oben skizziert, muss ein immer größerer Aufwand betrieben werden, um die Kapitalakkumulation überhaupt noch in Gang zu halten, während immer weniger an warenförmigem Reichtum abfällt, der gesellschaftlich umverteilt werden kann. Salopp gesprochen: Was „hinten rauskommt“ ist geradezu lächerlich gering im Vergleich zu den Ressourcen und finanziellen Mitteln, die für das Betreiben und die Instandhaltung der kapitalistischen Maschinerie aufgewendet werden müssen.
Freilich, solange es gelingt, die Akkumulation des fiktiven Kapitals in Gang zu halten, wird dadurch nicht nur ein mehr oder weniger starkes realwirtschaftliches Wachstum induziert (Lohoff/Trenkle 2012, S. 147 ff.), sondern es fließen auch zusätzliche Steuern und Abgaben, die dem Staat durchaus finanzielle Spielräume eröffnen, und es ist keinesfalls unerheblich, wie diese genutzt werden. Im politischen Disput darüber fällt die linke Antwort heute jedoch äußerst beschränkt aus. Sie orientiert sich an den klassischen keynesianischen Mustern: Durch Stärkung der Massenkaufkraft und öffentliche Investitionsprogramme soll die Konjunktur in Schwung gebracht und zugleich der Reichtum gerechter verteilt werden. Gegenüber dem neoliberalen Sparfanatismus stellt dies zwar fraglos die bessere Alternative dar, weil sie dazu angetan ist, die soziale Lage für große Teile der Bevölkerung zu verbessern oder zumindest zu stabilisieren. Dennoch ist sie in mindestens zweifacher Hinsicht prekär.
Erstens können solche Konjunkturprogramme nur dann wenigstens kurzfristig erfolgreich sein, soweit es gelingt, das berühmt-berüchtigte Vertrauen der Finanzmarktakteure zu gewinnen, damit sie ihr Geld nicht aus dem betreffenden Land abziehen. Nun sind diese zwar in aller Regel weitaus pragmatischer als die neoliberalen Ideologen in der Politik, denn das einzige was sie interessiert, ist dass Gewinne sprudeln, egal durch welche Maßnahmen; trotzdem engt diese ganz unmittelbare Abhängigkeit vom fiktiven Kapital die politischen Handlungsspielräume stark ein. Im Grunde lassen sich nur Maßnahmen umsetzen, die möglichst rasche und kurzfristige ökonomische Erfolge versprechen oder allenfalls diese nicht beeinträchtigen. Sozial- und gesundheitspolitische Maßnahmen etwa, die sich „nur“ an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren, führen sehr schnell dazu, dass die Kreditwürdigkeit des betreffenden Landes absinkt und dann das gesamte wirtschaftspolitische Projekt zur Disposition steht. Daher lassen auch „linke“ Regierungen regelmäßig alle sozialen und ökologischen Bedenken fahren, wenn sich die Möglichkeit auftut, neue Felder für Kapitalanlagen zu erschließen. (b)
Zweitens werden solche neo-keynesianischen Projekte spätestens mit dem nächsten großen Krisenschub an den Finanzmärkten brutal an ihre Grenzen stoßen. Wann genau dieser eintreten wird, lässt sich nicht vorhersagen, sehr wohl aber, dass er unvermeidbar ist und dass er noch sehr viel einschneidender sein wird als die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008. Denn da die jetzige Konjunktur des fiktiven Kapitals im Wesentlichen durch die Versorgung der Märkte mit kostenlosem Zentralbankgeld angefeuert wird, ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses nun selbst massiv entwertet wird und es zu einer globalen Hyperinflation kommt. Aber selbst wenn dieses Szenario zunächst noch ausbleibt, wird es den Zentralbanken äußerst schwer fallen, den Krisenschub mit den bisherigen Mittel aufzufangen, da sie dann ja selbst auf riesigen Bergen uneinbringbarer Forderungen gegenüber Banken und Staaten sitzen werden. Und auch die Regierungen werden kaum in der Lage sein, noch einmal so gewaltige Rettungsprogramme aufzulegen wie beim letzten Mal, da sie nicht zuletzt wegen eben dieser bis unter die Halskrause verschuldet sind. Außerdem würde es in einer solchen zugespitzten Situation nur schwerlich wieder zu einer konzertierten globalen Krisenintervention der größten Staaten kommen, sondern viel eher dürften sich die nationalistischen Kräfte durchsetzen und eine zentrifugale Dynamik des Abgrenzungswettlaufs und der gegenseitigen Aufhetzung in Gang setzen, welche nicht nur internationale Bündnisse, sondern auch supranationale Verbünde wie die EU sprengen könnte. Mit einer solchen politischen Negativkonkurrenz des Rette-sich-wer-kann, wie sie sich jetzt schon angesichts des Flüchtlingszustroms und des kriegerischen Zerfalls im Nahen und Mittleren Osten abzeichnet, wäre ein qualitativ neues Stadium des Krisenprozesses mit äußerst gefährlichen Dimensionen erreicht.
13.
Die Lage ist also viel zu dramatisch für das Weiter-so einer Linken, die ihre keynesianischen Konzepte anpreist wie den letzten Schrei und nicht sehen will, dass sie sich damit selbst die Hände fesselt. Neue Handlungsoptionen eröffnen sich erst wieder im Rahmen einer neuen Perspektive zur Aufhebung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die selbstverständlich nichts mit dem sehr zu Recht untergegangenen „Realsozialismus“ gemein haben darf. Ihr Inhalt kann nur die Produktion, Aneignung und Verteilung des stofflich-sinnlichen Reichtums und die Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen jenseits von Warenproduktion, Kapitalverwertung und staatlicher Verwaltung sein. Dazu aber bedarf es neuer Formen, Verfahren und Institutionen gesellschaftlicher Absprache und Planung, in denen frei assoziierte Individuen über ihre gesellschaftlichen Angelegenheiten entscheiden können, ohne sich von den verdinglichten und zunehmend destruktiven Zwängen der Warenlogik und der „Finanzierbarkeit“ ihren Handlungshorizont vorschreiben zu lassen. Selbstverständlich können solche Formen einer freien Assoziation gesellschaftlicher Individuen nicht mit einem Schlag entstehen, sondern müssen in einem längeren gesellschaftlichen Transformationsprozess entwickelt und erprobt werden. Es stellt sich daher die Frage, wo die möglichen Ansatzpunkte zu finden sind, auf die sich ein solcher Prozess beziehen könnte.
Was die Entwicklung der Produktivkraft und des gesellschaftlichen Wissens betrifft, sind längst alle Möglichkeiten vorhanden, um eine dezentrale, aber global vernetzte und technisch effiziente Produktionsweise aufzubauen, die nach den Kriterien stofflich-sinnlicher Vernunft organisiert und mit dem Erhalt der Naturgrundlagen vereinbar ist. Teilweise finden sich auch heute schon Beispiele dafür, etwa in der Gestalt dezentraler Energieversorgung aus regenerierbaren Quellen; doch unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen werden sich diese Potentiale nie entfalten können, weil die kapitalistische Logik immer zur Zentralisierung und Bildung großer Verwertungseinheiten tendiert und außerdem alle Ansätze zur Einsparung von Ressourcen und zur umweltschonenden Produktion sofort wieder durch gesteigerten Produktausstoß im Dienste der Kapitalakkumulation konterkariert werden (Rebound-Effekt). Entsprechendes gilt für die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, die aufgrund ihres arbeitssparenden Potenzials zum Treibsatz des fundamentalen kapitalistischen Krisenprozesses werden, der immer mehr Menschen zu „Überflüssigen“ macht und die Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zerstört. Würden sie jedoch gezielt im Sinne der stofflichen Reichtumsproduktion und der Befriedigung konkret-sinnlicher Bedürfnisse eingesetzt, könnten sie dazu beitragen, den alten Traum der Menschheit zu verwirklichen: den Traum einer Gesellschaft, in der alle genug haben, um ein gutes Leben zu führen und über disponible Zeit im Überfluss verfügen.
Die eigentlich schwierige Aufgabe wird jedoch darin bestehen, neue, nicht-hierarchische Formen gesellschaftlicher Absprache und Entscheidungsfindung zu entwickeln, die notwendig sind, um diese Möglichkeiten auch tatsächlich entfalten zu können (vgl. zur Diskussion auch Meretz 2015). Praktisch kann diese Aufgabe nur im Rahmen eines breiten Sektors gegengesellschaftlicher Selbstorganisation, der bewusst den Bruch mit der Logik von Warenproduktion vollzieht, bewältigt werden. Ansätze dazu existieren ja durchaus jetzt schon und bilden sich im Rahmen von sozialen Kämpfen insbesondere in Krisensituationen immer wieder neu. Beispiele dafür finden sich zuhauf in Griechenland, wo in Reaktion auf die Krise und die brutale Verarmungspolitik eine Vielzahl von selbstorganisierten Initiativen und Netzwerken in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens (Gesundheit, Wohnen, Kultur, Produktion etc.) entstanden ist.
Allerdings leiden solche Ansätze (in Griechenland ebenso wie in Spanien, Argentinien oder anderswo) stets darunter, dass sie kaum Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen haben, obendrein durch rechtliche und bürokratische Vorgaben in ihrem Aktionsradius extrem eingeengt werden und außerdem staatlicher Repression ausgesetzt sind. Daher können sie sich nicht zu einer machtvollen gesellschaftlichen Alternative entwickeln, sondern erscheinen als Notbehelf und „Ausputzer“ für die Folgen der Austeritätspolitik. Genau hier eröffnen sich neue Handlungsoptionen für eine Linke, die sich als emanzipatorische Kraft auf der Höhe der Zeit versteht: Sie sollte alles nur Mögliche dafür tun, um die materiellen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für neue Formen solidarischer und emanzipatorischer Selbstorganisation zu verbessern, um auf diese Weise die Grundlagen für eine Alternative zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise und perspektivisch für deren Aufhebung zu legen.
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In diesem Sinne könnten Wahlbündnisse wie Syriza und Podemos, die ja aus den sozialen Protestbewegungen hervorgegangen sind, durchaus eine wichtige Funktion erfüllen und sich als wirkliche Alternative zur herkömmlichen linken Parteipolitik etablieren. Das setzt allerdings einen grundlegenden Perspektivwechsel und ein neues Selbstverständnis voraus. Derzeit befinden sich sowohl Syriza als auch Podemos auf dem besten Wege, zu stinknormalen Parteien zu mutieren, die das Erbe der bisherigen Sozialdemokratie antreten. Aber auch viele der Aktiven in den sozialen Bewegungen geben sich damit zufrieden, nun eine Vertretung im Parlament oder gar in der Regierung besitzen, die sich für ihre Forderungen einsetzt. Damit hat sich im Eiltempo jene klassische Arbeitsteilung zwischen sozialen Bewegungen und politischen Parteien herausgebildet, wie sie charakteristisch für die letzten 150 Jahre gewesen ist und die im Kern darin besteht, dass die ersteren sich zugunsten der letzteren entmündigen und entmachten lassen. Die Ebene der gesellschaftlichen Allgemeinheit wird damit den parlamentarischen Vertretungen überlassen, die mit dem Versprechen antreten, die Forderungen der sozialen Bewegungen in politische Reformprojekte, staatliche Maßnahmenprogramme und rechtliche Regelungen umzuformen. Letztlich läuft das immer darauf hinaus, dass nicht nur die kapitalistische Reichtumsproduktion als gesellschaftlich allgemeine Form anerkannt wird, sondern auch, dass die Parteien als „Regierung in spe“ den Ton angeben und sich dabei immer mehr den vermeintlichen Sachzwängen anpassen, während die sozialen Bewegungen sich auflösen oder verlaufen.
In Zeiten der kapitalistischen Aufstiegsbewegung war eine solche Selbst-entmündigung der sozialen Bewegungen und Rücknahme von Ansätzen der Selbstorganisation immerhin noch mit sozial- und rechtstaatlichen Reformen verbunden, die zu einer gewissen Verbesserung der Lebensumstände führten oder dies zumindest glaubhaft versprachen. Heute jedoch, wo der Reformismus im alten Sinne keine Perspektive mehr hat, gilt es die Perspektive radikal zu verändern. Die sozial-emanzipatorischen Bewegungen dürfen sich nicht mehr als Durchgangsstadium zur Parteienbildung oder als Vorfeldorganisationen ihrer parlamentarischen Vertretungen begreifen und sich damit abfinden, dass diese stellvertretend für sie auf der politischen Ebene die gesellschaftlich relevanten Entscheidungen treffen. Vielmehr müssen sie sich selbst als die gesellschaftlich relevanten Akteure sehen, die mit allen Mitteln darum kämpfen, die Strukturen einer solidarischen, gesellschaftlichen Selbstorganisation auszubauen, um nach und nach die Entmündigung zurückzunehmen, die mit der Delegation aller wesentlichen öffentlichen Aufgaben an den Staat einerseits und der Ökonomisierung fast aller sozialen Beziehungen andererseits verbunden war und ist.
15.
Gerade unter den Bedingungen des kapitalistischen Krisenprozesses, kann eine emanzipative Bewegung die Ebene der Politik und des Staates nicht einfach räumen und ignorieren. Die inhaltliche Orientierung der Kämpfe auf diesem Feld wäre jedoch eine ganz andere als bisher. Zum einen muss es darum gehen, so viele stoffliche Ressourcen (Gebäude, Produktionsmittel etc.) und Finanzen wie nur irgend möglich in den selbstorganisierten Sektor umzulenken und die Rahmenbedingungen zu verbessern, damit dieser gestärkt wird und sich weiterentwickeln kann. Zum anderen ist es aber auch unerlässlich, gleichzeitig die bestehenden rechts- und sozialstaatlichen Standards gegen all jene zu verteidigen, die sie abzuräumen versuchen. Denn auch wenn der Sektor gesellschaftlicher Selbstorganisation wächst und an Stärke gewinnt, bleibt doch auf absehbare Zeit der Staat ein zentraler Akteur, der die allgemeinen Rahmenbedingungen des Lebens im Krisenkapitalismus definiert und absichert. Daher wird selbstverständlich auch weiterhin der Kampf gegen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, die Kürzung von Sozialleistungen oder die kontrollstaatlichen Maßnahmen von größter Bedeutung sein.
Allerdings ändern sich die Voraussetzungen dieses Kampfes grundsätzlich, wenn er mit einer neuen Perspektive emanzipativer Aufhebung der kapitalistischen Vergesellschaftung verbunden wird. Erstens verliert er seinen rein defensiven Charakter, der ihm zwangsläufig anhaftet, solange er sich die Erneuerung des altehrwürdigen Regulations- und Wohlfahrtstaats auf die Fahnen schreibt, ohne selbst noch wirklich daran glauben zu können. Zwar bleibt es für sich genommen ein Abwehrkampf, aber der kann umso entschlossener geführt werden, wenn er nicht mehr mit irgendwelchen wirtschaftspolitischen Erwägungen aus der Mottenkiste des Keynesianismus begründet werden muss, sondern ganz konsequent die Befriedigung der konkret-sinnlichen Bedürfnisse aller in den Mittelpunkt stellt. Damit gewinnt er an Stärke und Ausstrahlungskraft, und es wird wieder leichter, die partikularistische Zersplitterung von oftmals miteinander konkurrierenden Interessenkämpfen zu überwinden und stattdessen Kräfte zu bündeln. Zweitens stellt ein erstarkender Sektor gesellschaftlicher Selbstorganisation auch eine praktische Basis dar, um gesellschaftliche Konflikte entschlossen ausfechten zu können; denn er bietet nicht nur eine gewisse materielle Absicherung, sondern auch eine eigene Infrastruktur für solidarische Unterstützung sowie Rückzugsräume vor Repression. Damit können auch Lohn- und Arbeitskämpfe, die weiterhin wichtig bleiben, solange immer noch große Teile der Bevölkerung auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft in der einen oder anderen Weise angewiesen sind, wieder solidarischer und erfolgreicher als derzeit geführt werden.
16.
Eine solche Orientierung gesellschaftlicher Emanzipation impliziert ein völlig anderes Verhältnis zu Staat und Politik, als es in der traditionellen Linken vorherrscht. Insbesondere im Leninismus war jede Form der Selbstorganisation dem Ziel der Eroberung der Staatsmacht untergeordnet und musste danach verschwinden oder auch gewaltsam zum Verschwinden gebracht werden. Heute muss umgekehrt der Auf- und Ausbau des selbstorganisierten Sektors als Basis für die Aufhebung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen. Die Kämpfe auf der staatlich-politischen Ebene, wären daher letztlich im Hinblick auf diese Perspektive zu führen. Für Lenin und den traditionellen Marxismus war das Absterben des Staates ferne Zukunftsmusik. Hingegen hat gesellschaftliche Emanzipation heute von vornherein die sukzessive Rücknahme des Staates in die Gesellschaft zum Inhalt.
Diese Orientierung, ergibt sich direkt aus der historischen Situation, in der wir leben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand der Staat erst am Anfang einer Entwicklung, in deren Verlauf er sich in weiten Teilen der Welt als abstrakte Allgemeinheit etablieren sollte, die fast alle Bereiche und Belange des gesellschaftlichen Lebens regelt. Es konnte daher so scheinen, als sei es entscheidend, an die Hebel der Staatsmacht zu gelangen – entweder durch Revolution oder durch Wahlen – um von dort aus die Gesellschaft zu transformieren.
Heute aber wissen wir nicht nur, dass diese Strategie die kapitalistische Herrschaft nur verfestigte – nicht selten mit grauenhaften Folgen. Zudem streift der Staat, unter den Bedingungen der fundamentalen kapitalistischen Krise, direkt vor unseren Augen zunehmend jenen Charakter der abstrakten Allgemeinheit ab. Entweder geht er in den offenen Zerfall über und öffnet den Raum für die Herrschaft von Rackets und Banden, mit denen Teile des Staatsapparats zumeist ertragreiche Bündnisse eingehen; oder er stößt nach und nach alle Aufgaben, die der Absicherung der allgemeinen Lebensbedingungen dienen, ab, bis nur noch die repressiven Kernfunktionen übrig bleiben, die dazu eingesetzt werden, den gesellschaftlichen Ausschluss zu organisieren. Tendenziell vermengen sich die beiden Verlaufsformen und münden im schlimmsten Fall in eine zentrifugale Dynamik konkurrierender regressiver Kräfte, die in den latenten oder den akuten Bürgerkrieg übergeht. Daher ist der Kampf um gesellschaftliche Emanzipation heute ganz wesentlich der Kampf um eine Alternative zur zunehmenden Zerstörung der materiellen Lebensgrundlagen und der regressiven Desintegration der Gesellschaft im kapitalistischen Krisenprozess. Links sein heute heißt, für die emanzipative Abwicklung des Staates und der kapitalistischen Reichtumsproduktion zu kämpfen.
Literatur:
Kurz, Robert (1991): Der Kollaps der Modernisierung, Frankfurt 1991
Lohoff, Ernst (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation. Der Fetischcharakter der Kapitalmarktwaren und sein Geheimnis, Krisis 1/2014, www.krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/
Lohoff, Ernst (2015): Wenn Reichtum Reichtum vernichtet. Der inverse Kapitalismus und seine Grenzen, in: agora 42, 3/2015
www.krisis.org/2015/wenn-reichtum-reichtum-vernichtet/
Lohoff, Ernst/ Trenkle, Norbert (2012): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind, Münster 2012
Meretz, Stefan (2015): Commonismus statt Sozialismus, in: Marxistische Abendschule Hamburg (Hg.): Aufhebung des Kapitalismus, Hamburg 2015
http://keimform.de/2015/commonismus-statt-sozialismus-2/
Stahlmann, Johanna (1990): Die Quadratur des Kreises. Funktionsmechanismus und Zusammenbruch der sowjetischen Planökonomie, in: Krisis 8/9, Erlangen 1990
www.krisis.org/1990/die-quadratur-des-kreises/
Trenkle, Norbert (1993): Der demokratische Mauerbau. Elendsmigration und westlicher Abgrenzungswahn, in: Krisis (Hg): Rosemaries Babies, Bad Honnef 1993
www.krisis.org/1993/der-demokratische-mauerbau/
Trenkle, Norbert (2015a): Gottverdammt modern. Warum der Islamismus nicht aus der Religion erklärt werden kann
www.krisis.org/2015/gottverdammt-modern/
Trenkle, Norbert (2015b): Arbeit in Zeiten des fiktiven Kapitals
www.krisis.org/2015/die-arbeit-in-zeiten-des-fiktiven-kapitals/
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(a) Die Thesen wurden auf der Tagung „Was ist heute links“ der Münchner Zeitschrift Widerspruch am 10.10.2015. vorgetragen und diskutiert. Für die schriftliche Veröffentlichung habe ich sie mit Unterstützung durch Ernst Lohoff umfangreich überarbeitet und erweitert.
(b) Lehrreich ist in dieser Hinsicht das Beispiel der Kirchner-Regierung in Argentinien. Diese führte das Land aus der wirtschaftlichen Misere heraus, indem sie erstens und völlig zu Recht die Rückzahlung der aufgelaufenen Kredite privater Finanzinvestoren verweigerte. Zweitens war das aber nur möglich, weil gleichzeitig ein Großteil des riesigen und nicht sehr dicht besiedelten Landes in monokulturelle Plantagen für Soja und andere Produkte verwandelt wurde, um durch deren Export die nötigen Deviseneinnahmen zu erzielen. Damit konnte zwar die Binnenkonjunktur auf Trab gebracht und das Sozialsystem verbessert werden, doch die Folgen sind nicht nur ökologisch, sondern, für die Landbevölkerung, auch gesundheitlich katastrophal. Außerdem stößt diese wirtschaftspolitische Strategie inzwischen an ihre Grenzen, was auch ein Grund für die Abwahl der Kirchner-Partei sein dürfte.